Alt werden als Voll-Endung

Alt werden als Voll-Endung

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend

dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,

blüht jede Weisheit auch und jede Tugend

zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.

Anfang und Ende

Zusammenfassung und Rückblick: Was ist jetzt noch wichtig?

Wer war ich? Was ist die Essenz meines gelebten Lebens?

Im Rückblick das Wesentliche erkennen

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde

uns neuen Räumen jung entgegen senden,

des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...

Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde.

(Hermann Hesse)



Anfang und Ende

Zusammenfassung und Rückblick: Was ist jetzt noch wichtig?

Wer war ich? Was ist die Essenz meines gelebten Lebens?

 Alt-Werden


Es gibt Fortbildungen und Coaching-Programme zum Thema Ein Projekt Starten; dabei geht es um den Beginn, es geht um Mut, Motive und Motivation.

Selten findet man Unterstützung dabei, etwas zu beenden. Das Ziel des „Höher, schneller und weiter“ ist im Bewusstsein der Industrieländer stark ausgeprägt, aber wann ist es schnell oder hoch genug? Harald Welzer hat in seinem Buch „Nachruf auf mich selbst“ dazu angeregt, aus der Perspektive „Jenseits des Endes“ sich zu fragen, wie möchte ich im Rückblick auf mein gewesenes und beendetes Leben gewesen sein. Er konstatiert, dass uns eine Kultur des Aufhörens fehlt.

Ein Erlebnis kürzlich in einer Gruppe: Es wurde bereits mehrfach angekündigt, dass jetzt Schluss sei, die meisten hatten bereits den Mantel angezogen und die Tasche über den Arm gehängt (und scharrten mit den Hufen, im Sinne von: Wann kann ich endlich gehen?) Immer wieder kam noch eine Frage oder ein Einfall, der gesagt werden musste, bis endlich ein Mitglied der Runde das erlösende Wort äußerte: „So wir danken dem Referenten!“ Erleichterung: Jetzt kann ich endlich nach Hause gehen!


Vorbereitung für ein Fest, sich auf einen Vortrag vorbereiten: Wann ist es genug? Ob ein Dank an das bisherige Leben und die netten Menschen, denen ich begegnet bin vielleicht auch ein leichtes und versöhnliches Ende im Sterbe-Prozess möglich macht? Einen versöhnten Tod miterleben zu dürfen, ist ein Geschenk an diejenigen, die den Sterbenden begleiten. Ein Kampf, das Nicht-akzeptieren-Können des Endes dagegen lässt oftmals die Hinterbleibenden bitter zurück und mit-leiden.

Wann bin ich satt, habe genug gegessen oder getrunken, wann bin ich müde und sollte ins Bett, wann habe ich genug Karriere gemacht oder genug Komplimente bekommen, genug Fans usw.? Auch heute ist es möglich statt alt und dement lieber alt und weise zu werden. Die Kunst zu erkennen, wann ich genüge, wann es genug ist und wann es dran ist Tschüss zu sagen ist ein Aspekt von Altersweisheit.






Legende von der Entstehung des Buches Taoteking

auf dem Weg des Laotse in die Emigration



Als er siebzig war und war gebrechlich

drängte es den Lehrer doch nach Ruh

denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich

und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu.

und er gürtete den Schuh.

...

Doch am vierten Tag im Felsgesteine

hat ein Zöllner ihm den Weg verwehrt:

"Kostbarkeiten zu verzollen?" - "Keine."

Und der Knabe, der den Ochsen führte, sprach:"Er hat gelehrt."

Und so war auch das erklärt.


Doch der Mann in einer heitren Regung

fragte noch: "Was hat er rausgekriegt?"

Sprach der Knabe: "Dass das weiche Wasser in Bewegung

mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.

Du verstehst, das Harte unterliegt."

.......

"Schreib mir´s auf! Diktier es diesem Kinde!

So was nimmt man doch nicht mit sich fort.

Da gibt´s doch Papier bei uns und Tinte

und ein Nachtmahl gibt es auch: Ich wohne dort,

nun ist das ein Wort?"

........

Aber rühmen wir nicht nur den Weisen,

dessen Name auf dem Buche prangt!

Denn man muss dem Weisen seine Weisheit erst entreissen.

Darum sei der Zöllner auch bedankt:

Er hat es ihm abverlangt.

                  (Bertold Brecht)




Erzähl-Café


In Freiburg gibt es ein biographisches Erzähl-Café für die ältere Generation. Alle TeilnehmerInnen haben Erfahrungen gemacht und somit auch Erfahrungs-Schätze gesammelt, diese Schätze werden in wertschätzender Runde aufgefangen und gewürdigt.




Die lieben Freundinnen und Freunde versammeln sich im Gedenken an die/den Gegangenen: Wer war sie/er? Was habe ich an ihm/ihr geliebt?

Gibt es ein seelisch-geistiges Erbe, was auch nach ihrem Ableben weiter lebendig wirkt?

Kann ich durch das Miterleben dürfen etwas lernen, was mir ein Vorbild sein kann oder ein Wunsch für mein Ende? Was könnte mein letzter Satz sein?

Altersweisheit gibt es auch heute noch!


Ursula Staudinger hat in ihrer Berliner Altersstudie nachweisen können, dass altersgemischte Teams und Gremien konstruktivere Ergebnisse liefern und hat ihre Studien mit der Empfehlung an Politik und Wirtschaft abgeschlossen, alte Menschen mit ihrem Erfahrungs-Schatz und der Fähigkeit zu Überblick und Abstand mehr in komplexe Entscheidungsprozesse zu integrieren.

In einem interdisziplinären und international besetztem Team hat sie fünf Kriterien heraus gefunden, anhand derer sich Weisheit sogar auch messen lässt: 1. Ein weiser Mensch besitzt ein reichhaltiges Faktenwissen und hat viele Erfahrungen gemacht und diese auch verarbeitet. 2. Sie/er hat das Wohl aller Beteiligten im Blick. 3. Er/sie berücksichtigt den Kontext, wie z.B. das Alter des Befragten, den kulturellen und den sozialen Hintergrund. 4. Sie/er hat auch die zeitliche Perspektive im Blick: Was ist dem vorausgegangen, wie hat es sich bis hierher entwickelt und welche Konsequenzen wird diese zu fällende Entscheidung in Zukunft für das Umfeld haben? 5. Ein weiser Mensch hat gelernt, mit Unsicherheiten und Ungewissheiten umzugehen.


Die genannten Fähigkeiten können im Alter noch zunehmen,              jedoch nur wenn sie gepflegt werden


Dieser im Alter mögliche Überblick und die Weitsicht machen deutlich, warum in vielen Kulturen früher und in seltenen Gegenden auch heute noch dem Alter viel Respekt gezollt wurde/wird. Im spirituellen Kontext, z.B. der Yoga-Philosophie oder dem Buddhismus, werden diese Fähigkeiten auch heute gepflegt: Das Alter ist die heiligste Lebensphase, weil hier der Mensch frei sein kann und seine ureigenen Wünsche und Ziele verwirklichen kann.

Rilke schreibt in "Die Aufzeichnungen des Malte Laurends Brigge": Früher wusste man, dass man den Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern.... Den hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und einen stillen Stolz" . Zu den Fähigkeiten, die - nach meiner Beobachtung - im Alter ebenfalls noch zunehmen können, wenn sie gepflegt werden, gehören: Die Fähigkeit, lieben und verzeihen zu können, und die Gabe, über eigene Fehler oder die anderer lachen zu können. Auch die Fähigkeit, trotz Schwierigkeiten unbeirrbar den eigenen Weg zu gehen, auf den Beifall Anderer verzichten zu können und Entscheidungen zu treffen, fällt im Alter leichter. Erik Erickson hat in seinem Studenmodell der psychosozialen Entwicklung dem fortgeschrittenen Alter die Qualitäten Generativität (versus Stagnation) und Ich-Integrität (versus Verzweiflung) zugeordnet. Eine Oma oder ein Opa geben gerne an ihre Enkel weiter, ebenso ein Chef an seine Lehrlinge, Erlerntes/Erarbeitetes bereitet Freude, wenn es in einer folgenden Generation weiter fruchtbar sein darf.

Unsere körperliche und auch die seelische Haut wird dünner, die Abwehrmechanismen lassen nach, dadurch werden wir für atmosphärische Schwingungen empfänglicher. Wir werden verletzlicher, aber können auch schneller erkennen, was für uns jetzt im Moment wichtig und richtig ist. Natürlich gehört die Zunahme von körperlichen Unzulänglichkeiten auch zum Altern,  aber es fällt leichter, dieser nicht mehr so viel Gewicht zu geben.


Zusammenfassend sind es spirituelle Qualitäten, die im Alter zunehmen können und das Wesentliche des Menschseins ausmachen. Unser Umfeld hier im Westen ist materialistisch geprägt. Wenn wir uns vorwiegend mit der Materie unseres Körpers beschäftigen, nehmen wir die Verfallsprozesse des Körpers wahr. Es besteht dann die Gefahr, sich zu sehr mit dem Körper zu identifizieren und die wesentlichen Teile unseres Seins aus dem Auge zu verlieren.




Menschen wurden erschaffen, um geliebt zu werden.

Dinge wurden geschaffen, um benutzt zu werden.

Der Grund, warum sich die Welt im Chaos befindet, ist,

weil Dinge geliebt werden

und Menschen benutzt werden.


(S.H. der XIV. Dalai Lama (*1935))

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